Ich wurde weit weg vom Meer geboren aber längst trug ich es tief in mir. Eingewoben in meine DNA, mein Wesen, mein Fühlen, mein Denken. Generationen meiner Vorfahren haben vom und mit dem Meer gelebt und das hat Spuren hinterlassen. Das Meer lässt niemanden unberührt, der mit ihm in Berührung kommt, und es erhebt seinen Anspruch auf die, die aus Sippen stammen, die nur überleben konnten, weil das Meer da war und seine Reichtümer mit ihnen geteilt hat. Ich wurde geboren, weit weg vom Meer und ahnte nichts davon.
Es gibt Menschen, die sehen das Meer zum ersten Mal im Leben, wenn sie längst erwachsen sind. Manche Menschen sehen es in ihrem ganzen Leben niemals. Ich sah das Meer zum ersten Mal mit vier Monaten. Das Meer zwinkerte mir freundlich zu und umspielte behutsam meine kleinen Füße. Spaßeshalber ließ es auch mal einige kleine Wellen gegen mich anrollen. Das Meer freute sich, dass ich lachte und nicht weinte. Das Meer wisperte mir meinen Namen zu. Nicht den Namen, den mir die Menschen gegeben hatten, sondern den, den es selbst mir gegeben hat und den ich von da an auch kannte, irgendwo tief in meiner Seele. Das Meer ließ mich ziehen, denn es wusste, ein erstes Band war geknüpft und würde nie mehr reißen. Ich hing an seiner Angel.
Ich kehrte in regelmäßigen Abständen zurück an das Meer und jedesmal genoß ich die Zeit mit dem Meer. Es zeigte mir seine verschiedenen Seiten. Mal ließ es seine Wogen leise an den Strand rollen, mal schlugen die Wogen rastlos an Land und mal bäumte sich das Meer plötzlich brüllend zu hohen Wogen auf und ließ sie auf das Ufer krachen. Das Meer lehrte mich was bedingungslose Annahme ist, denn egal in welchem Zustand ich zu ihm kam, es empfing mich immer mit derselben Bereitwilligkeit und wies mich niemals ab. Das Meer lehrte mich Respekt vor seinen Elementen und den Lebewesen, denen es Heimat ist, die es nährt und manchmal auch verschlingt. Das Meer lehrte mich, es zu lieben aber auch es zu fürchten, das aber in perfekter Balance. Das Meer lehrte mich Offenheit für die Welt und Neugier auf fremde ferne Welten. Das Meer lehrte mich, was es heißt, seinen eigenen Reichtum freigebig zu teilen, ohne Ansehen der Person, ohne Berechnung.
Wenn ich mich selbst nicht mehr ertrug, das Meer hielt mich aus. Wenn ich nicht mehr wusste, wer ich war, flüsterte es mir meinen geheimen Meeresnamen zu und half mir, mich wiederzufinden. In einigen meiner dunkelsten Stunden, in denen mich keine menschliche Stimme mehr erreichte, war es das Meer, das immer einen Zugang zu mir fand. Wenn meine Seele nur noch schwarz sah, schenkte es mir sein Glitzern und Flirren, solange bis ich auch wieder andere Lichter sehen konnte. Wenn meine Seele in Aufruhr war, übertönte das Meer den Aufruhr und schuf mir so den Freiraum, meine eigene Ruhe wiederzufinden. Wenn mich die Fülle der Gedanken in meinem Kopf orientierungslos machten, sang es mir sein uraltes Lied und half mir, mich wieder auf meinen Weg zu besinnen und klare Entscheidungen zu treffen.
Seit wenigen Jahren lebe ich nun ganz nah am Meer. Wann immer ich will, kann ich zu ihm fahren und mich seiner und meiner selbst vergewissern. Das Meer, es zwinkert mir immer noch freundlich zu. Ich mag das Meer nicht nur, ich bin zutiefst mit ihm verbunden, weil es in mich hineingewoben ist. Bin ich fern von ihm, ist immer dieses Ziehen und Sehnen in meiner Seele, wirklich immer. Wenn ich bei ihm bin, komme ich zur Ruhe und bin einfach nur glücklich und zufrieden.
[Johannes Korten hat eine Blogparade »Mein Text zum Meer« angestoßen. Obiger Text ist mein Beitrag dazu. Wer gerne einen eigenen Text beisteuern möchte, kann das dort tun oder einfach lesen, was andere zum Thema geschrieben haben.]
Sehr schön geschrieben! Danke.
Wow. Sehr, sehr wow.
Wie schön. Und wie schön, dass Sie mir die Geschichte mit dem Meer neulich auch erzählt haben. Wer, wenn nicht Sie sollte bei dieser Blogparade mitmachen?
Es ist gut, dass Sie dem Meer wieder so nahe sind.
Kann auch erst einmal nur WOW sagen! Zeitweise hatte ich Gänsehaut, eine angenehme.
WOW!
Wie wunderbar geschrieben!!
Ich wurde leider auch viel zu weit weg vom Mehr geboren.. und lebe inzwischen viele hunderte Kilometer entfernt. Bis an die Nord- und Ostsee ist es fast doppelt so weit wie an das Mittelmeer.. doch ich trage so sehr den Norden im Herzen.
Du sprichst mir fast aus der Seele. Vielen Dank für diesen schönen Text!
Wie schön, wenn man solch’ eine Verbindung zum Meer hat. Es ist doch etwas Geheimnisvolle und ewig Unendliches.
Vielen Dank für Euer positives Echo zu diesem Text. Ich bin ehrlich gesagt ein bisschen baff! :)
Das ist so schön geschrieben, einfach nur wow.
Ich lebe ja nun in den Bergen und es gefällt mit auch hier und habe das Meer auch erst als Erwachsener das erste Mal gesehen und fahre immer wieder hin. Ich stehe dann einfach nur da und schaue und staune und wenn ich fotografiere, weiß ich gar nicht, wann ich aufhören soll. Kein Mensch braucht so viele Fotos vom Meer, von jeder Welle, und trotzdem tu’ ich’s. Nur leider kann ich es nicht so schön schreiben wie du und deshalb gibt es auch meist nur Bilder.
Tschüssi Brigitte
Wundervoller Text in dem ich mich an vielen Stellen wiederfinde. Auch mich zieht es immer wieder zum Meer und ein, wenn nicht gar beide Jahresurlaube am Meer sind Pflicht. Hach. Danke für den tollen Beitrag.
@ Brigitte - in den Bergen war ich natürlich auch schon öfter aber ich bin definitiv kein Berg-Mensch. Kurz mag ich es und es gibt natürlich tolle Wanderungen und Ausblicke, aber leben könnte ich dort mit Sicherheit nicht. Aber beides, Berge und Meer kann man mit Fotos schlicht nicht »einfangen«, es sind immer nur so klitzekleine Ausschnitte … vielleicht machen wir Menschen deswegen so viele Bilder von beidem.
@ Hannes - Danke Dir, für die schöne Idee einer Blogparade zum Thema Meer! Es hat mir viel Freude gemacht, daran teilzunehmen, und ich drücke die Daumen, dass sich noch viele finden, die mitmachen.
Oh ja! Ooooh ja! *Tränchen aus Augenwinkel wisch*
Wunderbarer Text, bei dem man sofort spürt, dass es das absolut richtige war, der Sehnsucht zu folgen. (Spornt mich gleich noch mehr an, danke!)
@Stef *Taschentuchanreich*
@Esther - vielen Dank! Tatsächlich bin ich der Sehnsucht erst gefolgt, als mir das Leben völlig unerwartet die Komplettlösung in den Schoß legte. Vorher erschien mir eine Verwirklichung der Sehnsucht unrealisierbar. So kann es im Leben gehen.