Privates ·Tagesnotizen 2015

Tagesnotizen

Vier Minuten! Vier Minuten schweigend einem anderen (fremden!) Menschen in die Augen schauen.

Marina Abramović hat es in ihrer Performance »The Artist is Present« getan und zwar viel länger. Im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) saß Abramović im Atrium des Museums an einem Tisch und schwieg - ihr gegenüber ein Stuhl, auf dem Besucher Platz nahmen. Nach 721 Stunden endete die Performance, nachdem 1565 Besucher ihr gegenüber gesessen hatten. Ich habe gefilmte Ausschnitte dieser Performance gesehen. Die Reaktionen der Menschen, die sich Abramović gegenüber setzten und ihr in die Augen sahen, fielen sehr unterschiedlich aus. Manche begannen sogar zu weinen.

Ich wurde heute wieder daran erinnert, als ich den Artikel »To Fall in Love With Anyone, Do This« von Mandy Len Catron las. Nun habe ich nicht vor, »in Love« zu fallen, aber ich war in meiner Timeline auf den Link zum Artikel gestoßen. Las hinein und blieb hängen. Vor zwanzig Jahren gelang es dem Psychologen Arthur Aron zwei Fremde in seinem Labor dazu zu bringen, sich ineinander zu verlieben. Mandy Len Catron, hat nun seine damals angewandte Methode in einer Art Selbstversuch angewendet und berichtet in diesem Artikel davon.

Zu Arons Versuchsaufbau gehörte u.a. dass sich seine menschlichen »Versuchskaninchen« am Ende des Experiments für 4 Minuten schweigend in die Augen schauen sollten. 4 Minuten sind eigentlich nicht lange, aber wenn man jemandem, und noch wichtiger einem relativ Fremden (!), wortlos vier Minuten direkt in die Augen schauen soll, dann kommen einem 4 Minuten wahrscheinlich wie eine kleine Ewigkeit vor.

Wenn ich das richtig verstanden habe, vertrat Aron die Ansicht, dass gemeinsame Verletzlichkeit eine besondere Nähe und Verbundenheit bewirkt. Der Großteil seines Experiments bestand aus der Beantwortung von 36 Fragen, die zunehmend persönlicher und intimer wurden. Der 4-Minuten-Blick war dann der Abschluß.

Ich hab überlegt, wann ich das letzte Mal einem Menschen länger als in unseren Breiten üblich in die Augen geguckt habe. Das ist eine ziemliche Weile her. Und ich bin sicher, dass es keine 4 Minuten waren, sondern weit darunter. Wenn ich mich recht erinnere, war es ein Kleinkind, dem ich längere Zeit in die Augen geschaut habe.

Der direkte Blick ist ja in den meisten Kulturen eine eher zweischneidige Angelegenheit. Einerseits gilt er als Hinweis für Aufrichtigkeit, Unverstelltheit, Höflichkeit und Intimität, andererseits wird er von vielen als unangenehm, verunsichernd oder sogar übergriffig empfunden. Die meisten weichen dann dem direkten Blick nach kurzer Zeit aus. Es ist also etwas dran am direkten Blick und vermutlich wird die Wirkung eines solchen Blickes sogar durch Schweigen noch verstärkt.

In dem Experiment waren ja zuvor sehr persönliche und intime Fragen zu beantworten. Die Teilnehmer hatten sich also schon auf ungewohnte Weise einem ihnen bisher Fremden gegenüber »entblößt«. Ich frage mich, ob diese Erfahrung, den 4-Minuten-»Akt« eher erleichtert oder erschwert hat.

Als ich damals die Bilder von Marina Abramovićs Performance sah, war ich eigentümlich berührt von dem, was sich da offensichtlich abspielte, und so ging es wohl den meisten, die Zeugen dieser Performance waren. Einerseits hat mich die Vorstellung, mich ihr gegenüber zu setzen und ihr so direkt in die Augen zu schauen fasziniert, andererseits hat sie mir auch Angst gemacht. Gerade, weil ich nicht abschätzen konnte, was so eine Erfahrung in mir auslösen würde. Immerhin, einige Menschen begannen zu weinen (was natürlich per se nichts Schlechtes ist). Dieser Blickaustausch hatte etwas in ihnen ausgelöst, etwas in Bewegung gebracht und sie zu ihrer eigenen Überraschung zum Weinen gebracht.

Ich bin ziemlich sicher, wenn ich damals in New York im MoMA gewesen wäre, hätte es mich sehr sehr gereizt, mich auch auf diesen Stuhl zu setzen, um zu sehen, was passiert. Ob der Reiz allerdings groß genug gewesen wäre, meine eigene Zurückhaltung, Schüchternheit und Angst zu überwinden und mich tatsächlich auf den Stuhl zu setzen? Ich weiß es nicht …

Ich denke den ganzen Tag immer wieder über mein eigenes Gespaltensein nach.
Vier Minuten! Vier Minuten schweigend einem anderen (fremden!) Menschen in die Augen schauen.

Wie ist das bei Euch? Habt Ihr schon mal einem / einer (relativ) Fremden so in die Augen geschaut? Würdet Ihr gerne? Oder kriegt Ihr bei dem Gedanken daran eher die Krise? Fällt es Euch leicht, anderen länger als üblich direkt in die Augen zu schauen (müssen ja nicht gleich 4 Minuten sein) oder gehört Ihr auch eher zu den Vermeidern und Ausweichlern?

*

Es gab übrigens noch etwas in dem Artikel, das mich sehr ansprach:

»It?s astounding, really, to hear what someone admires in you. I don?t know why we don?t go around thoughtfully complimenting one another all the time.«

»Es ist wirklich erstaunlich, gesagt zu bekommen, was jemand an einem bewundert. Ich weiß nicht, warum wir nicht alle ständig herumlaufen und uns ehrlich empfundene Komplimente machen.«

Ja, warum eigentlich nicht? Die Welt wäre wahrscheinlich um einiges freundlicher und besser, wenn wir anderen öfter sagen würden, was wir an ihnen schätzen und bewundern. So banal, aber ich bin dankbar, dass mich dieser Satz in diesem Artikel wieder daran erinnert hat, und irgendwie schließt sich damit auch ein wenig der Kreis zum ersten Blogeintrag vom heutigen Tag »Von Liebe und Lebendigkeit und der Frage nach dem Konkreten«. Anderen sagen, was wir an ihnen schätzen und bewundern, ist eine Möglichkeit uns gegenseitig »lebendiger zu machen«.

9 Gedanken zu „Tagesnotizen

  1. Die verschärfte, von mir noch nicht ausprobierte Form des In-die-Augen-Blickens dürfte sein, wenn man es mit sich selbst vor einem Spiegel tut…
    Ja, den anderen sagen, was einem an ihnen gefällt- es geschehen schöne Dinge, so man es denn tut! Meistens ungläubiges Staunen samt Lächeln, manchmal auch sofort Abwehr und sich selbst runterputzen (och, sag das nicht zu laut, wenn du wüsstest, was für ein A. ich sein kann…usw.)
    Gruß von Sonja

  2. @ Sonja - durchaus! Ich praktiziere das seit Anfang des Jahres (zunächst diesen Monat aber vielleicht auch noch darüber hinaus), denn ich habe mir vorgenommen, mir jeden Tag mindestens einmal im Spiegel freundlich und wohlwollend zuzulächeln. Klingt albern, ist aber doch interessant von der Wirkung her. Sich mal eben schief anzugrinsen ist relativ leicht bewerkstelligt, aber sich bewusst wohlwollend zuzulächeln, da muss ich mich an manchen Tagen schon richtig sammeln. Aber dann ist es schön, tut gut und verändert die Stimmung durchaus.

    Was die (aufrichtigen, durchdachten) Komplimente angeht, ist es schon erstaunlich, wie viele Menschen damit überhaupt nicht umgehen können. Das ist mir schon mehrfach aufgefallen. Dabei ist es so schlicht: einfach »Danke« sagen und sich freuen!

  3. Schöner Beitrag. Auch der Vorherige.

    Ich fahre viel mit dem Rad. Jeden Tag. Und lächele viel bzw. versuche durch ein kleines Lächeln mit Menschen in Kontakt zu treten.
    Schon interessant, was da alles dabei herauskommt. Die meisten freuen sich und lächeln auch zurück. Manche sind verwirrt und denken, man will was von ihnen… andere fühlen sich fast schon bedroht. Dies passiert aber sehr selten.
    Im Grunde genommen wollen doch alle das Gleiche: Liebe, Verständnis, Geborgenheit und Frieden. Ein schönes Leben halt.
    Und das fängt meistens bei einem selber an und geht weiter mit so kleinen Gesten im Alltag.

    Sich lange in die Augen zu schauen. Das habe ich das letzte Mal bei einer Meditation gemacht und das war sehr ungewohnt. Fast schon unerträglich am Anfang. (Komisch oder??)
    Man kennt die Person nicht und muss ihr in die Seele gucken. Ist schon auch mutig. Doch man lernt, den Anderen zu nehmen wie er ist. Ohne Worte und die darauf folgenden Bewertungen. Man sitzt beieinander und sieht sich in die Augen. Und irgendwann spürt man sie: Unsicherheit, Liebe, Angst, Ruhe, Neugier, etc… die Gefühle. Darum geht es und deswegen ist man auch so verunsichert am Anfang. Man lernt aber auch bei sich zu bleiben und den Anderen bei sich zu lassen. In Liebe und Respekt.

  4. @ Mandy - ja, das finde ich manchmal geradezu erschreckend, das viele mit einem Lächeln gar nicht so leicht umgehen können. Allerdings, wenn sie dann merken, man will nix von ihnen, dann lächeln sie auch und man merkt ihnen die Freude und Erleichterung total an.

    Sich so aufeinander zu konzentrieren und schweigend in die Augen zu gucken, ist halt ein sehr intimer Akt. Man »entblößt« sich ja sozusagen (also gefühlsmäßig etc.) schon ganz schön damit. Ich frage mich, ob es uns heutzutage noch zusätzlich so schwer fällt, weil viele so isoliert sind. Viele leben allein in anonymen Städten (oder Dörfern, wo sie irgendwie doch nicht dazugehören) und sie treffen dann größtenteils beruflich auf andere Menschen. Da wird von ihnen erwartet, dass sie »professionell« auftreten, was bedeutet, möglichst perfekt zu erscheinen, bloß keine Schwächen zu zeigen oder z.B. seine wahren Gefühle zu verbergen (z.B. Verkäuferinnen oder sonstige Dienstleister -> der Kunde ist König! und muss (sollte) eigentlich immer freundlich und zuvorkommend behandelt werden. Wirklich gute enge Freunde haben auch erschreckend wenig Menschen und wenn sie welche haben, dann sind die heutzutage häufig auch weit weg. D.h. sie gehen irgendwann von der Arbeit nach Hause und da sind sie wieder allein. Viele sind glaube ich schlicht entwöhnt, andere so nah an sich heranzulassen und das auch auszuhalten.

  5. Mal eine ganz andere Frage: Wie hält man überhaupt 721 Stunden die Augen auf??

    Tja, mit dem Augenkontakt, das ist eine sehr diffizile Sache… Ob ich ihn gut aushalte oder nicht, hängt für mich viel davon ab, wie ich mich angeschaut fühle: wirklich aufrichtig oder - meines körperlichen Zustandes (gelähmte Beine, Rollstuhl) wegen - eher mitleidig…

    Andererseits mag es gut sein, dass auch meine (fremden) Mitmenschen sich von mir teils unangenehm beäugt fühlen, wenn sie nicht sofort durchschauen, dass ich sie (z. B. an der Bushaltestelle) mit meinem Blick (aber gleichzeitig auch unsichtbar mit meiner Intuition) daraufhin »abchecke«, ob sie mir wohl helfen könnten/würden und ob dabei beide Seiten sich wohlfühlen…

  6. Ãœber die Performance von Marina Abramović (und Einblicke in ihr Leben und frühere Arbeiten) gibt es eine wunderbare Doku auf DVD/BR. »The Artist is Present« - kann ich sehr empfehlen. Das ist sehr berührend, vor allem das Wiedersehen mit ihrem langjährigen Lebensgefährten im Rahmen dieser Performance. Man spürt auch Anstrengung, die das Unternehmen gekostet hat, die körperlichen und geistigen Strapazen. Und eben die Intensität, den Energiefluß zwischen den beteiligten Personen.

  7. @Anna - Ich glaube, da gab es schon Pausen in der Performance. Aber insgesamt hat sie 721 Stunden da gesessen und Leuten in die Augen geschaut.

    Was Du zum Augenkontakt schreibst, ist dann aber eher der übliche Augenkontakt in der Öffentlichkeit, oder? Aber Du hast schon recht, wie man auf Augenkontakt reagiert hängt auch davon ab, wie man ihn empfindet. Wobei, was ich empfinde, muss auch nicht immer zwangsläufig das sein, was der andere damit beabsichtigt oder meint. Wir interpretieren ja dabei den Blick des anderen und da sind wir nicht unfehlbar.

    Ich dachte spontan, wenn man sich wirklich bewusst in die Augen schaut, so wie bei dem Experiment bzw. der Performance, dann nimmt man ja den Rest des Körpers gar nicht mehr wahr, denn dazu müsste man ja den Blick wieder senken.

  8. @kid37 Ja, die ungeplante und für sie unerwartete Wiederbegegnung mit ihrem langjährigem Lebensgefährten, wurde auch aufgezeichnet und die habe ich auch gesehen. Das war schon faszinierend, was sich da ohne Worte, nur in den Blicken der beiden und in der Mimik der Gesichter abgespielt hat.

  9. Liisa, ja, klar geht es eher um den Augenkontakt in der Öffentlichkeit. Der Gedanke kam mir nur, weil er bei mir wegen meiner »Fragestellung« (erst im Kopf und dann auch oft in real) dann für manche vielleicht ein wenig über »das Ãœbliche« hinaus geht.

    Der Gedanke, dass auch ich den Blick / die Re-Aktion der anderen ja interpretiere und dabei keineswegs richtig liegen muss, kam mir auch noch.

    Dass ich beim ganz bewussten Schauen in die Augen den Rest des Körpers gar nicht wahrnehme, ist auch ein wichtiger, von mir erst mal nicht bedachter Aspekt! Danke für’s Hinweisen drauf!

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