In meinem engeren Umfeld stirbt gerade jemand. Nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt; nur wenige Jahre älter als ich. Es ist Sterben an einem Gehirntumor. Es ist klar, dass nichts mehr zu machen ist.
»Austherapiert« nennen die Ärzte das. Es gibt Fälle, da sind alle froh, wenn das Wort »austherapiert« endlich ausgesprochen wird. Nicht, weil es eine erfreuliche Nachricht wäre, sondern weil damit nochmal ein ganz anderes Kapitel aufgeschlagen wird. Es kehrt so etwas wie Ruhe ein.
Das klingt widersinning, aber es ist so. Ruhe, weil nicht mehr wie wahnsinnig nach Auswegen, Behandlungsmethoden, Wundermittelchen, etc. etc. gesucht wird. Ruhe, weil einem nicht mehr ständig Entscheidungen abverlangt werden, die man eigentlich gar nicht treffen kann, weil man sich über die volle Tragweite nie im Klaren ist, nicht einmal die Ärzte sind das. Ruhe, weil nicht mehr ständig neue Risiken, Nebenwirkungen, etc. gegeneinander abgewogen werden müssen.
Ruhe, weil ab diesem Punkt klar ist, wo es nun hingeht. Ruhe, weil alle aufhören einen reißenden Fluß, der alles mitreißt, was sich ihm in den Weg stellt, aufhalten zu wollen. Ruhe, weil das Kämpfen ein Ende findet und man sich wieder auf das eigentliche Sein konzentrieren kann.
Es ist, als wäre man eben noch in einem riesigen Wasserwirbel gewesen, der einen herumgeschleudert und es einem unmöglich gemacht hat sich zu orientieren, und plötzlich ist man heraus aus diesem Wasserwirbel und treibt zerschlagen und ermattet in ruhigerem Gewässer. Man weiß, man hat nicht mehr die Kraft, ans rettende Ufer zu schwimmen. Man weiß, es ist niemand mehr da, der einen vor dem Ertrinken retten könnte. Man weiß, man stirbt. Vielleicht im nächsten Moment, vielleicht erst in ein paar Minuten, Stunden, Tagen.
Weil man aber nicht mehr ständig vom dem Wirbel aus Behandlungen, Nebenwirkungen, Entscheidungen, Ängsten, etc. herumgeschleudert wird, sind plötzlich doch kleine Kapazitäten frei. Realisiert man plötzlich, da ist noch ein klitzekleines bisschen Restkraft übrig. Sie reicht gerade dafür aus, den Kopf über Wasser zu halten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und während man dort so treibt, beginnt man wieder zu sehen.
Das Ufer zum Beispiel und die Blumen, die dort blühen. Man dreht sich mühsam auf den Rücken und schaut in den Himmel und sieht die Wolken. Wolken, die man eigentlich sein ganzes Leben lang schon sieht. Aber jetzt erscheint es einem wie die reinste Seligkeit. Einfach nur dahintreiben, in den Himmel schauen, die Wolken angucken, wie sie dahinziehen, unberührt von den Dramen, die sich unter ihnen abspielen. Man beginnt wieder zu sehen. Das Licht der Morgensonne, wie es über die Wand neben dem Krankenbett wandert. Eigentlich so banal, aber jetzt erscheint es einem so schön, dass man das Gefühl hat, es könnte einem das Herz zerspringen vor Freude über diesen Anblick.
Die Wahrnehmung ist auf eine besondere Art und Weise geschärft. Plötzlich nimmt man ganz alltägliche winzige Dinge wahr, die einem vorher vor lauter Aktivität und Kampf gar nicht mehr aufgefallen sind. Kleinste Gesten können einen im tiefsten Herzen rühren. Der Geschmack eines winzigen Bissens Nahrung löst Erinnerungskaskaden aus der Kindheit oder Jugendzeit aus. Kann sein, man bekommt die Erinnerungsfetzen gar nicht mehr alle logisch oder korrekt zueinander sortiert. Kann sein, sie enthalten große Löcher und doch, die Gefühle, die mit den Ereignissen damals verbunden waren, sind alle wieder da.
Für den Kranken selbst reduziert sich alles auf einen kleinen Radius. Er selbst, das Bett, in dem er liegt, das Zimmer in dem das Bett steht, der kleine (oder auch größere) Ausschnitt Aussicht, den er vom Bett aus noch hat, die Tagesroutine, die Pflegeroutine, der Kreis von Menschen, der um ihn ist. Das erscheint wenig und ist doch gleichzeitig viel. So viel, dass es den Kranken anstrengt und müde macht. Aber er muss ja nicht mehr kämpfen. Wenn er müde wird, darf er die Augen schließen und sich ausruhen.
Und die, die mit ihm sind, können sich in diesen Momenten nichts Schöneres mehr vorstellen, als genau dort zu sein, wo sie gerade sind, und den schlafenden Kranken anzusehen, vielleicht seine Hand zu halten und geduldig zu warten, bis er wieder ein wenig Kraft gesammelt hat.
Kraft, die Augen noch einmal zu öffnen, Kraft für einen leichten Händedruck, oder wenigstens für ein Flattern der Finger auf der Hand derer, die sie gerade halten. Vielleicht sogar Kraft für ein paar Worte, ein Lachen oder wenigstens ein Flüstern, ein Lächeln. Und wenn die Kraft für all das doch nicht mehr reicht, dann ist das nicht mehr schlimm, dann trägt allein das Wissen um die Anwesenheit der Menschen, die einem im Leben und im Sterben wichtig sind. Es gibt keine Forderungen, keine Erwartungen mehr. Es gibt nur noch Akzeptanz und Dankbarkeit. Dankbarkeit für den mattesten Blick, den leisesten Hauch, das leichteste Zucken eines Fingers.
Scheinbar geschieht fast nichts mehr in den letzten Tagen, Stunden, Minuten, Sekunden und doch sind sie so inhaltsreich. Jede Sekunde ist erfüllt, keine Minute verschwendet. Es sind keine leichten Stunden und Tage, aber sie sind unendlich kostbar. Alle miteinander treiben auf den Horizont zu, und alle wissen, nur einer wird über den Horizont hinaus treiben. Die anderen werden vorher loslassen müssen. Vielleicht erst im allerallerletzten Moment, aber doch loslassen und den Menschen ziehen lassen über den Horizont hinaus.
*Ich bin in diesem Fall nicht selber vor Ort, ich werde nur regelmäßig informiert über den Zustand des Kranken, und den Fortgang der Situation. Ich habe aber schon mehrfach an ähnlichen Sterbelagern gesessen und zusammen mit dem, was mir erzählt wird, habe ich eine Ahnung davon, was sich abspielt. Natürlich beschäftigt mich das Geschehen gedanklich im Moment am meisten. Körperlich bin ich hier, zuhause, aber mit Kopf und Herz bin ich in diesem Hospizzimmer und warte mit den anderen auf den Moment, wo der Kranke über den Horizont hinaustreibt, aus unserem unmittelbaren Blick entschwindet und alle Quälerei, alles Leiden, alle Schmerzen für ihn vorüber sind.
*Nachtrag 24.03.: In der vergangenen Nacht ist er hinter dem Horizont verschwunden. Wir sind sehr traurig aber auch dankbar, dass sein Leiden zuende ist.
*
Ich hab es gestern vor obigem Hintergrund schon getwittert, aber da nicht alle, die hier mitlesen, auch auf Twitter sind, schreibe ich es hier nochmal:
Dieser Zustand zwischen festhalten wollen und gehen lassen, wenn ein Mensch seinen letzten Kampf kämpft. Die verrinnende Zeit, die (1/2)
— Liisa (@charmingLiisa) 22. März 2015
zugleich stehen zu bleiben scheint. Die Dankbarkeit für all das Gute im Leben und die Ohnmacht des nur noch geschehen lassen Könnens. (2/2)
— Liisa (@charmingLiisa) 22. März 2015
Feiert Euer Leben immer mehr, als ihr einige seiner Einzelaspekte bejammert und beklagt.
— Liisa (@charmingLiisa) 22. März 2015
Wie wahr das alles ist, wie gut du es in Worte fassen kannst!
Das Leben feiern…
:-)
DANKE!
Dein Text hat mich sehr berührt. Mein Vater liegt gerade im Sterben..
Auch von mir: danke.
Danke. Ein sehr berührender, eindringlicher Artikel.
@rita29 - Ich wünsche Dir und allen, die davon betroffen sind, viel Kraft und einen friedvolles Abschiednehmen.
@ alle anderen - gerne.
Mein herzliches Beileid. Alles Gute für die schwere Zeit.
Barbara
Eine Bekannte meinte, das man sich vor dem unmittelbaren Weggehen nicht füchten braucht, denn man wird abgeholt. Ich finde es ist ein schöner und tröstlicher Gedanke.
Dein Artikel ist sehr berührend.
»Ãœber den Horizont hinaustreiben«, das ist ein so wunderbares Bild, ich werde es mir merken. Hab Dank von Herzen für diesen Text! Lieben Gruß von Graugans
Ein sehr berührender Text. Manches davon habe ich bei meiner Mutter auch erlebt, vor allem die Ruhe nach dem »Austherapiert.«
Dir und allen Betroffenen alles Gute!
Bewegend. Danke für deinen Text.
Erst jetzt habe ich diesen Eintrag gelesen und bin ebenfalls sehr berührt…. Danke…