Privates ·Vogelliebe

Anselm im Walnussbaum

Die Herzen anderer Lebewesen für sich zu gewinnen, ist eine Gabe, die den Menschen in größerem oder kleinerem Ausmaß mitgegeben ist. Wohl dem, der reichlich über diese Gabe verfügt! Wehe dem, dem sie nur wenig verliehen ist! Zwar kann man im Laufe des Lebens diese Fähigkeit zumindest bis zu einem bestimmten Grad erlernen, aber es ist und bleibt schwierig für diejenigen, denen die Herzen nicht ganz natürlich zufliegen.

Ich selbst gehöre offenbar zur Gruppe derer, denen die Herzen anderer nicht einfach so zufliegen. Das bekümmert mich manches Mal. Denn mein eigenes Herz neigt dazu, anderen zuzufliegen. Ein ewiger Spagat, der manchmal viel Frustration und Traurigkeit mit sich bringt. Wäre mein Herz ein kalter Stein, würde es mir ja nichts ausmachen, dass ich um die Herzen anderer Menschen häufig genug ringen muss.

Der Ratschlag: »Lass es einfach! Die Menschenherzen, die mit Dir verbunden sein sollen, werden von alleine den Weg zu Dir finden!«, ist nicht grundsätzlich wahr. Manchmal kann es so sein, aber verlassen darf man sich darauf nicht. So zumindest meine Lebenserfahrung bisher.

Nun ist es in meinem Fall aber so, dass mir die Herzen von Tieren zufliegen. Ich muss gar nichts dafür tun. Selbst Tiere, die eher scheu sind, oder sogar Abneigung gegenüber Menschen an den Tag legen, scheinen bei mir alle Scheu abzulegen und mir Vertrauen entgegenzubringen. Ich habe keine rechte Erklärung dafür. Wir scheinen uns zu verstehen - wortlos. Das war mir schon manches Mal ein kleiner Trost. Trotzdem verwundert es mich immer wieder aufs Neue, wenn es passiert.

Kürzlich ist es wieder passiert. In den Gärten hier sind viele Amseln unterwegs. Besonders zum Abend hin liefern sich die Amselmännchen Sangeswettbewerbe von den Dächern und Zäunen, dass es eine Wonne ist.

Eines der Amselmännchen hat sich mir in diesem Frühling angefreundet. Ich nenne ihn Anselm. Fast immer wenn ich auf den Balkon hinaustrete, dauert es nur kurze Zeit und Anselm kommt angeflogen und setzt sich meist in den Walnussbaum vor meinem Balkon. Der steht noch ganz entblößt von Blättern und schielt sehnsüchtig zum Apfelbaum und dem Kirschbaum, die bereits ihre Blätter haben und sogar schon kleine Blüten tragen.

Der Walsnussbaum ist immer der letzte im Garten, der neue Blätter bekommt und der erste, der sie wieder verliert. Nun, wie gesagt, bisher noch völlig blattlos, reckt er seine Zweige der Sonne - so sie sich denn mal blicken lässt - entgegen, als wolle er sagen: »Schau, noch kein einziges Blatt! Wärme mich! Nähre mich! Dass mein Saft endlich ausreichend steigt und ich auch so schöne grüne Blätter bekomme wie die anderen!«

Für Anselm und mich ist es aber natürlich so wie es im Moment noch ist, sehr einfach. Keine Blätterbüschel verdecken meinen neuen kleinen Freund. Er kann auf den Zweigen landen, wo immer er will, und ich kann ihn sofort sehen. Meist landet Anselm aber sowieso auf einem der obersten Zweige. Da hockt er dann und linst zu mir herüber, knipst mit einem Auge, wippt ein bisschen hoch und runter und pfeift und zwitschert mich auffordernd von der Seite an.

Meist pfeift oder zwitschert er dann eine kleine Tonfolge. Ich antworte ihm entweder mit Pfeifen oder einem eher armseligen Gezwitscher. Darauf antwortet er dann wieder mit weiteren Tönen. Dieses Spielchen können wir eine ganze Weile treiben, und er scheint seinen Spaß daran zu haben. Aufgeregt hüpft er von Zweig zu Zweig immer etwas näher an mich heran, legt den Kopf ein bisschen schief und schaut zu mir herüber.

Inzwischen habe ich ihn schon meinem Garten-Yoda vorgestellt. Sie erkennt ihn mittlerweile auch unter den anderen Amslerichen. Allerdings ist sie nicht ganz so gut auf ihn zu sprechen. Er vandaliert nämlich ab und an etwas in ihrem Gemüsegarten herum. Aber ich glaube, ein bisschen hat sie ihn mittlerweile trotzdem in ihr Herz geschlossen.

Wenn ich abends auf den Balkon gehe, wartet er meist schon in der Nähe und fliegt sofort wieder in den Walnussbaum, und dann singt er mir mit großer Hingabe sein Abendlied vor.

Sonst treibt er sich überall in unserem und den angrenzenden Gärten herum und sucht eifrig nach Futter. Ich bin nicht sicher, ob er eventuell sogar frischgebackener Papa ist. Das könnte gut sein. In dem Fall würde er allerdings seine Vaterpflichten ab und an wegen mir doch ziemlich vernachlässigen.

Nur hinter eine Eigenart von ihm bin ich bisher noch nicht gestiegen. Jedesmal wenn Anselm in den Nachbargarten linker Hand will, schlüpft er etwas mühselig durch den Maschendrahtzaun, statt einfach über den Zaun zu fliegen. Und mit mühselig, meine ich mühselig, denn Anselm ist ein recht großer und stattlicher Amslerich in den besten Jahren. Ich halte jedesmal etwas die Luft an und fürchte, er könnte sich verkeilen und anschließend, bei dem Versuch wieder loszukommen, ernsthaft verletzen. Aber bisher hat er es jedesmal geschafft, sich durch die Lücke hindurch zu quetschen.

Ich freue mich jedenfalls über meinen kleinen neuen Freund und hoffe, er bleibt mir noch eine Weile treu, bevor es ihn in andere Gefielde lockt.

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