Nachdenkliches ·Weihnachten

Die Frau mit der Blockflöte

Gestern war ich zwecks noch zu erledigender Einkäufe in der Altstadt von Rostock. Dort, mitten im vorweihnachtlichen Getrubel vor einem Buchladen stand eine Frau. Sie war deutlich jenseits der 60, ihre Kleidung wirkte ärmlich und eher dünn. Sie sah verhärmt, müde und auch ein bisschen verfroren aus. Von den Buden des Weihnachtsmarktes, die sich durch die ganze Altstadt ziehen, zogen die tpyischen Weihnachtsmarktgerüche nach Glühwein, Bratwürstchen, gebrannten Mandeln und heißen Mutzen herüber. Darüber der unvermeidliche Klang von dudelnden Weihnachtspopsongs, die abenteuerlich miteinander um die Oberhoheit konkurrierten.

Da stand die Frau also und spielte auf einer einfachen Blockflöte. Sie spielte Weihnachtslieder. Keine kunstvollen Arrangements oder Improvisationen, sondern nur die schlichten Melodien. Irgendwie wirkte sie etwas wie aus der Zeit und Welt gefallen. Ich beobachtete die Szene und die Menschen, von denen die meisten achtlos an ihr vorbei hasteten. Das lag vielleicht auch daran, dass sie sich offensichtlich nicht allzu wohl fühlte bei dem, was sie da tat. Sie spielte und wirkte dabei, als ob sie sich gleichzeitig schon dafür entschuldigen wollte, dass sie es überhaupt wagte, hier zu stehen und zu spielen. Beim Flöten waren ihre Augen meist gen Boden gerichtet. Nur ab und an warf jemand ein bisschen Kleingeld in den Becher, der vor ihren Füßen platziert war. Immer dann und nur dann, hob sie den Blick, schaute die- oder denjenigen direkt an, unterbrach das Flötenspiel kurz und sagte deutlich »Dankeschön«. Dann irrte ihr Blick wieder gen Boden und sie flötete weiter.

Ich fragte mich, welche Notlage sie wohl dazu gebracht hatte, sich dort hin zu stellen und zu flöten. Große Reichtümer konnte sie auf diesem Wege jedenfalls nicht anhäufen. Es waren nicht sehr viele, die etwas in ihren Becher warfen und es war deutlich vernehmbar nur Kleingeld. Stehen blieb auch fast keiner. Kinder, die auf Musikinstrumenten Weihnachtslieder spielen, haben vermutlich einen größeren Niedlichkeitsfaktor. Die meisten der Vorbeieilenden nahmen die Frau gar nicht wahr bzw. bemühten sich offensichtlich mehr recht als schlecht, sie auszublenden. Wieder andere warfen ihr irritierte oder gar empörte Blicke zu. Einige Jugendliche zeigten mit den Fingern auf sie und machten respektlose Bemerkungen, bevor sie verächtlich lachend weiter zogen. Die Frau mit der Blockflöte spielte unbeirrt eine Weihnachtsmelodie nach der anderen.

Ich überlegte, was sie wohl mit dem gesammelten Geld machen würde? Sich vielleicht eine warme Mahlzeit am Abend leisten? Das Geld über längere Zeit sammeln und vielleicht davon ein Weihnachtsgeschenk für jemanden kaufen, der ihr lieb und teuer ist? Eine längst fällige Rechnung bezahlen? Sich am Weihnachtsabend etwas zum Essen leisten, das sie sich sonst nicht leisten könnte? Vielleicht ja auch für einen anderen guten Zweck spenden?

Die Tür des nahegelegenen Buchladens öffnete sich. Eine Verkäuferin entließ eine vollbepackte Kundin. Die wiederum nahm die Flötenklänge und die Frau, von der die Flötentöne kamen, wahr. Sie fragte die Buchhändlerin irgendetwas, was ich nicht verstand. Daraufhin meinte die Buchhändlerin, die Frau stünde schon seit Stunden dort und spiele auf ihrer Flöte. Sie warf einen mitleidigen Blick in Richtung der Frau. Die Kundin verabschiedete sich und hetzte nach einem letzten Blick auf die Flötenspielerin in die entgegengesetzte Richtung davon. Die Buchhändlerin verschwand wieder im Ladeninneren.

Dann näherte sich eine weitere Frau der Flötistin. An ihrem Aussehen und ihrer Kleidung war zu sehen, dass sie eindeutig um einiges besser gestellt war. Sie kramte in ihrem Geldbeutel und legte etwas in den Becher. Es klimperte nicht. Die Frau mit der Flöte hatte natürlich registriert, dass da jemand an ihren Becher heran trat und vermutlich - genauso wie ich - auf das Klimpern der Geldstücke im Becher gewartet, um dann wieder ihr »Dankeschön« zu sagen. Doch das Klimpern blieb diesmal aus. Überrascht hob sie den Kopf, schaute kurz in den Becher und erhaschte die Frau, die sich schon halb abgewandt hatte und weitergehen wollte, gerade noch am Mantelärmel. »Bitte warten sie doch«, sagte sie. Besann sich einen Moment, richtet sich dann kerzengerade auf, sah der Geberin gerade in die Augen und spielte ein etwas anspruchsvolleres Weihnachtslied auf der Flöte. Die Dame, für die sie spielte, schaute ihr ebenso und mit voller Konzentration ins Gesicht, wiegte ein wenig im Takt des Liedes ihren Kopf und hörte sich das Stück geduldig bis zum Ende an. Dann hob sie ihre Hände und legte sie vor ihrer Brust zusammen und verbeugte sich vor der Frau mit der Blockflöte und sagte vernehmlich »Vielen Dank für dieses schöne Weihnachtslied!«

Ich hatte das Gefühl, dass das ganze trubelige Drumherum in diesem Moment für die beiden - und irgendwie auch für mich - vollkommen inexistent war. Hier fand eine Begegnung auf Augenhöhe statt. Hier machte ein Mensch einem anderen ein Geschenk. Ein schlichtes, einfaches Geschenk mit den wenigen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. Und sein Gegenüber empfing dieses Geschenk mit Freude und Dankbarkeit.

Die Dame wandte sich zum Weitergehen. Die Frau mit der Blockflöte senkte den Blick wieder zum Boden und begann ein weiteres Weihnachtslied zu flöten.

Ich glaube, das war das Weihnachtlichste, was ich gestern in Rostock gesehen habe, ja sogar das Weihnachtlichste der Adventszeit bisher.

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